„Ein Mal ultimativer Orgasmus bitte“ Über den Leistungsdruck unserer sexualisierten Gesellschaft

Heutzutage ist sexuell (fast) alles möglich. Zu zweit, zu dritt oder doch lieber in einer Gruppe? Oral, vaginal, anal oder durch simple Selbstbefriedigung. Fetischistisch, exhibitionistisch, voyeuristisch, sadistisch, masochistisch. Mit einem Partner, einem Spielzeug, einem Roboter, oder frischem Gemüse, á la Feuchtgebiete. Hetero-, homo-, bi-, pan-, a-, trans- oder intersexuell. In zahlreichen medialen Quellen ist Sex leicht zu finden. Online, im Fernsehen oder als klassische Print-Version. In der Musik, in Büchern, in Werbungen. Durch ihn wird Geld verdient und für ihn wird es ausgegeben. Sex-Sells gilt als Motto großer Firmen, um ihr Produkt an die Gesellschaft zu bringen. Sex-Sells gilt als Motto einiger Models, Schauspieler oder Sänger, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Der Wandel der Gesellschaft und der Reifeprozess eines einzelnen Individuums verändern stetig sein Wesen. Vom Akt der arischen Erbgutweitergabe im zweiten Weltkrieg, über die wilde, nackte Liebe der 60er Flower-Power Bewegung, bis zu unserer Generation: der sexualisierten Gesellschaft. Heutzutage ist sexuell (fast) alles möglich, also nutze die Chance der freien Entfaltung!

Sex als Standardmelodie des Alltags

Im Jahre 2018 ist Sex zu einer Standardmelodie des Alltags geworden. Suchen muss man ihn gar nicht erst. Ein Klick und die virtuelle Welt verschafft binnen Sekunden alles was das Herz begehrt. Die dunkelsten Fantasien erfahren hier vollkommene Befriedigung. Die Tatsache, dass (fast) alles möglich ist, gibt der Generation Y nicht nur das Gefühl der Freiheit, sondern fordert gleichzeitig zur Selbstoptimierung auf. Setzt das Privileg der Möglichkeiten mehr unter Druck, als dass es das eigentliche Ziel verspricht: die individuellen Bedürfnisse zu stillen? Um eine Antwort auf die Frage zu finden: alles auf Anfang. Wortwörtlich.

Der Mensch wird durch die Vermischung der Eltern-Gene schon während der Befruchtung zu einem Individuum geformt. Die Verschmelzung der Eizelle und des Spermiums bestimmt die Zusammensetzung der Chromosomen. Wie war das noch? XX-Chromosomen ergeben ein Mädchen, XY einen Jungen. Wahrscheinlich eines der wenigen Grunddinge, die die verschwitzte, achselhaarige Biolehrerin den Schülern erfolgreich beibringen konnte. In der Sekunde, in der das Spermium die Hülle der Eizelle durchdringt und sich die Erbinformationen von Mann und Frau vermischen, ist das Geschlecht, Hautfarbe, besondere Merkmale und somit die Individualität des Menschen geschaffen. Sie ist Gesetz der menschlichen Natur.

Die individuelle Eizelle

„Jeder Mensch ist einzigartig.“ Ein ausgelutschter und daher bedeutungsloser Magnetkühlschrank-Spruch, den man mit kitschigen Postkarten oder als Tattoo in dramatischer Schnörkelschrift auf der Brust des Gym-Gängers direkt neben „Never Regret“ verbindet. Da die Individualität des Menschen oftmals in Vergessenheit gerät und dies Teil des Problems darstellt, sollte er umbenannt werden in: „Jede befruchtete Eizelle ist ein Individuum“. Vielleicht läuft schon im Sommer 2019 irgendein Pumper mit diesem Tattoo stolz über den Seelbacher Weiher.

Sobald die Geburt von statten ist, pfuscht den biologischen Faktoren allerdings die Umwelt dazwischen: Die Erziehung der Eltern, das soziale Umfeld und die ungeschriebenen gesellschaftlichen Normen begleiten und formen den heranwachsenden Sprössling. Das eigene Geschlecht wird auf einer körperlichen, auf einer sozialen und schließlich auf einer psychischen Ebene entdeckt. Wurde unserer Generation vor allem durch Dr. Sommer aufgeklärt, können die Kinder der heutigen Zeit ihr Wissen über das Thema Geschlechtsverkehr durch die weite Bandbreite des Internets erlangen. Ein Blick in den Fernseher oder auf gewisse Werbeanzeigen kann ebenfalls durch Bilder und Anspielungen ungewollt Einfluss nehmen. Die Normen der Eltern gelten als Vorbild. Im klassischen Fall: Mann und Frau heiraten, kriegen Kinder und leben mehr oder weniger glücklich zusammen bis das der Tod sie scheidet.

Pickel, Pornos, Pubertät

Das Alter der Pickel, Selbstwertkomplexe und Hormontornados rückt näher: die Phase, in der sich eine stille Unsicherheit mit den Merkmalen eines Aufmerksamkeitsdefizits verkleidet und in der sich die Zahnspange niemals, wie in den trashigen Hollywoodkomödien, mit der Zahnspange des Schwarms beim Küssen verhakt, sondern den Träger einfach nur pubertierend aussehen lässt. Eine Zeit der Gefühlsachterbahn, in der täglich die Welt mindestens einmal über einen zusammenbricht und nach fünf Minuten das Herz vor Glück aus der Brust zu springen droht. Begriffe wie Penis, Vagina und Geschlechtsverkehr nimmt nur noch die schwitzige Biolehrerin in den Mund. „Schwanz“, „Muschi“, „Ficken“, „Vögeln“ oder für die richtig Coolen reicht auch ein simples „Machen“: „Isch hab’ die gemacht“. Erste Erfahrungen werden gesammelt und mit den engsten Freunden aufgeregt geteilt. Dass Sex nicht dem Rumgeficke aus dem Porno gleicht, in dem die Doppel D-Busige Frau aus der Vogelperspektive gefilmt wird, wie sie den muskelbepackten Kerl oral befriedigt und immer wieder zwischen den Geräuschen des Stöhnens und des Würgens switched, gehört im idealen Fall zu einer der vielen Erkenntnisse. Die Normen der Eltern verlieren an Wert, stattdessen sind die coolen Kids der Schule nun Maß der Dinge. Der sexuelle Horizont erweitert sich und doch sitzt er in den Schranken des im Freundeskreis-Akzeptierten fest. Das Musterbild in Deutschland? Eine Studie besagt, der Durchschnitts-Jugendliche wird im Alter von süßen 16 Jahren entjungfert. Die erste Beziehung und das Verlieren der Unschuld stehen ganz oben auf der Bucket Liste. Der Druck wächst.

Freie sexuelle Vielfältigkeit

Und heute? Die Schulzeit ist überstanden. Das Ende des Studiums ist fast erreicht. Gereift und ausgeglichen haben wir uns sexuell vollkommen gefunden. Wir wissen genau was wir wollen und wie wir es wollen. Die Normen aus der pubertierenden Hölle tragen einen neuen Namen: Freie sexuelle Vielfältigkeit. Alles ist erlaubt. Und nicht nur das: Je öfter, je lauter, je wilder, je verrückter, desto besser. Das Trinkspiel „Ich hab’ noch nie…“ setzt hohe Maßstäbe. Die Regeln sind simpel: Wer die Frage schon mal erlebt hat, muss einen Schluck trinken. Nur wer viele Sexgeschichten in Petto hat, erreicht das Ziel des hohen Alkoholkonsums. „Ich hab’ noch nie mit jemandem geschlafen.“ Gar kein Problem. Auffällig unauffällig gehen schnelle Blicke um. Was? Du bist noch Jungfrau? Ist ja vollkommen ok, aber warum? Woran liegt’s? Nächste Frage: „Ich hab’ noch nie Sex am Strand gehabt.“ „Oh, that’s my turn, I guess.“ Lisa, inzwischen 20, war ein Jahr in Australien und trinkt langsam, große Schlucke, damit es auch jeder mitbekommt. Ein Anerkennendes Nicken macht die Runde.

Das Spiel lebt von der freien sexuellen Vielfältigkeit und doch gibt es klare Erwartungen. Die schulischen Normen sind passé. Doch wozu werden Maßstäbe durchbrochen, wenn die Freiheit den Zwang mitbringt alles auskosten zu müssen, um nicht als langweilig abgestempelt zu werden. Ein*e Mitspieler*in ist also mit Mitte 20 noch Jungfrau. Fazit: Prüde. Ein Paar, dass nur alle drei Wochen Sex hat? Beziehungsprobleme. Leiser Orgasmus, kein Dirty Talk und immer nur in Missionarsstellung? Da ist wohl jemand nicht entspannt genug. Ein Mensch, der kein Verlangen nach sexuellem Kontakt besitzt? Seltsam, seltsam.

Der Durchschnitts-Mensch

Die sexualisierte Gesellschaft zeigt uns zahlreiche Möglichkeiten auf. An Angebot fehlt es nicht, an Studien über verschiedene Sex-Statistiken auch nicht. Natürlich beziehen sich die Tabellen und verallgemeinerten Tatsachen nur auf die positiven Aspekte des Geschlechtsverkehrs. Die Durex Studie „fand heraus“, dass der Durchschnitts-Deutsche genau zwei Mal die Woche jeweils 30 Minuten lang Sex hat. bento.de „beweist“, 26% der Frauen küssten schon mal das gleiche Geschlecht. Bei Männern liegt der Schnitt bei 8%. Legt man Wert auf ein wenig mehr Seriosität kann man in der Studie des Kinsey Instituts lesen, dass der „Durchschnitts-Mensch“ zwischen 18 und 29 Jahren genau 112 Mal Sex im Jahr hat. Der Durchschnitts-Mensch. Genau da liegt das Problem in solchen Studien und wir kommen wieder auf das Pumper-Tattoo zurück.

Kostümierte Freiheit

Wir leben in einer selbstoptimierenden Gesellschaft, in der der Mensch täglich durch zahlreiche mediale Bereiche mit neuen Informationen und sexuellen Aspekten konfrontiert wird. Sex galt zeitweise als unrein, schließlich wurde er in den 60er Jahren auf ein Podest gestellt. „Free the nipple“ galt erst als Provokation und schließlich als Trend. Das ist knapp 60 Jahre her. Da die Gesellschaft mit dem Wandel der Zeit geht, verändert sich mit ihr die Norm der Sexualität. Und da sich der Mensch in seiner Natur nicht zurückentwickelt, wurde aus „Free the nipple“ ein „Grab ‘em by the pussy“: eine Empfehlung des aktuellen amerikanischen Präsidenten. Die stetige Entwicklung der sexualisierenden Gesellschaft zerschlägt alte Normen und setzt dadurch gleichzeitig Erwartungen in den Köpfen der Individuen fest. Dir stehen zahlreiche Möglichkeiten offen, nutze sie. Der Satz beinhaltet Freiheit und Zwang zugleich. Doch vor allem Überforderung. Auch wenn man immer noch nicht von vollkommener sexueller Freiheit in Deutschland sprechen kann, á la Rechte der Homo- Trans- oder Intersexualität, ist es ein Privileg im Jahre 2018 in dieser Gesellschaft leben zu können. Und doch darf sich das Bestehen der zahlreichen Möglichkeiten nicht als Zwang der Nutzung umwandeln. Sind die sexuellen Bedürfnisse der einen Person durch Fußfetischismus gestillt, ist die andere Person mit der simplen Selbstbefriedigung glücklich. Heutzutage ist sexuell (fast) alles möglich. Die Gesellschaft gibt demnach die Freiheit, sich auf individuelle Art und Weise entfalten zu können: durch Sex im Handstand oder den eingestaubten Klassiker, der Missionarsstellung.

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