Bloß nicht deutsch sein. Über die identitäre Selbstwahrnehmung abgrenzungsbemühter (Sub-)kultur

In welchem Ausmaß ist Kultur identitätsstiftend? Und inwiefern ist Identität Gradmesser eines kultivierten Lebensgestus? Und passen uns da Flüchtlinge nicht hervorragend in den Kram? Ein Erklärungsversuch.

Deutschsein, So-und-so-sein, irgendwie Irgendwas-sein macht sich stets die Potentiale einer typologischen Mehrdeutigkeit zunutze, wenngleich diese Zuschreibungen per se das Ziel verfolgen, möglichst differenziert zu bestimmen, was man oder etwas ist, wie man sich, andere oder anderes einzugrenzen vermag. Es soll nicht bloß darum gehen, welche Typologien – insbesondere hinsichtlich nationaler und kultureller Identitäten – bestehen, sondern auch inwieweit diese etablierten Vorstellungen in Sub- und Jugendkulturen aufgebrochen, neu verhandelt und umgekehrt werden. Aktuell erhalten wir die Informationen zur Konstitution unserer Identität(en) nicht nur vom reifen Fundament eines herkunftsbasierten Grundverständnisses. Darüber hinaus erhalten wir sie auch aus einem Pool, der interkulturellen Austausch, eine neue Welle distinktionsmotiviertem Menschlichkeitsverständnisses sowie die Medien als klassische Massenmedien voraussetzt. In der Folge beschreibe ich Beobachtungen, nichts weiter. Es handelt sich, um das vorwegzunehmen, keinesfalls um unumstößliche Wahrheiten.

Vor kurzem bin ich nach Österreich gezogen. Ausschlaggebend hierfür ist ein Erasmussemester, was andere wiederum dazu bewegt, meine Coolness (schließlich spricht man hier deutsch, die Stadt [Graz] ist eben nicht Berlin und somit sind auch die subkulturellen Nischen überschaubar) infrage zu stellen. Ebenfalls ist die österreichische Kultur eine Kultur, die der unseren in vielerlei Hinsicht ähnelt. Das stößt mitunter auf Ablehnung. Jenen, denen ich erzähle, wo ich herkomme, fällt es nicht leicht, meine Entscheidung vor dem Hintergrund verschiedener Topoi (das sogenannte Raus-Kommen, kulturelle Aneignung, das Sich-Loslösen und natürlich das Mit-gewohnten-Mustern-brechen, etc.) anzuerkennen. Ist es tatsächlich so einfach, nicht cool zu sein?

Das Fragwürdige identitärer Gleichschaltung

Denken wir an die vielen Vorlieben, die wir – dem allgemeinem Tenor nach – mit unseren österreichischen Nachbarn teilen: Fülle und Zweckmäßigkeit übertrumpfen Stil und Form, v.a. beim Essen. Noch mehr beim Trinken. Wir alle lieben unser Hopfen im Bier und unsere Kräuter im Schnaps. Zudem ist die disziplinierte Organisation der österreichischen Bürokratie in ihrer Pedanterie noch unerträglicher, als die unsere. In der Steiermark, jedoch außerhalb von Graz, liebt man den easy way of life. Inmitten der Idylle des Landlebens genügt man voll und ganz sich selbst. Das mystisch Mäßige des Waldes begeistert ebenso wie das gemäßigte Klima. In den Semesterferien fährt man in die Heimat, dort wo man zuhause ist, dort wo man Fjällräven gegen Fruit of the Loom einzutauschen bereit ist, dort also wo kein Prestigeverlust zu befürchten ist. Und ja, Identität ist mehr denn je an Reputation und Ansehen, an Selbst- und v.a. an Fremdwahrnehmung gekoppelt. Regionalität, Volkstum und ein zum Fremdschämen praktiziertes Bemühen um den Schutz des Privaten – wobei in mancherlei Fällen das Private und das Nationale synonym zu verstehen sind – degradieren die Identität derweil zur antiquierten Gesinnung einer Zeit, in der die nun vierzig Jahre alten Karohemden zwar wirklich neu, aber nicht en vogue waren. Die ästhetischen Paradigma aktueller Second-Hand-Affinität und ihrer subkulturell neu bewerteten Inanspruchnahme als Praktik des Sich-Entziehens, dem Fliehen in andere Zeit oder zumindest der Kommunizierbarkeit des Wunsches, entfliehen zu wollen, sind sicher auch ein interessanter Aspekt kulturellen Selbstverständnisses. Die Referenzen subkultureller Abgrenzung (eben gerade alte Klamotten, der Rückgriff auf analoge Medien wie den Plattenspieler sowie die nostalgische Reglorifizierung der Schreibmaschine, etc.) sind erste Erkennungsmerkmale, die sich auf einen vermeintlichen – v.a. stilistischen – Individualismus berufen, der Distinktionen im sozialen Raum markieren und erhalten soll, die heutzutage vielfältiger sind als je zuvor. Dies soll aber nicht Hauptgegenstand vorliegender Bestandsaufnahme sein. Ohnehin hätten sich bei ausgiebiger Recherche zu diesem Thema wieder gänzlich neue Trends in den Vordergrund geschoben.

Meine Integration in Österreich war jedenfalls ein Kinderspiel. Fast ist man irritiert von dieser fragwürdigen Gleichschaltung. Wenn man irgendetwas über die Eigenarten und ideellen Vorstellungen der Menschen lernen möchte, dann sollte man sie sensibel und nicht stereotypisch betrachten, so schwer es auch fällt, mit den vorgefertigten und deshalb so einfachen Denk- und Handlungsstrukturen zu brechen. Es sind die feinen Nuancierungen unserer Überzeugungen, denen unserer Freunde, noch mehr jedoch denen, die wir als solche nicht bezeichnen würden, die unsere Identität mitbestimmen. Diese Überzeugungen müssen wir nicht einmal hinterfragen, solange uns die Kollektivität jener, die wir als die unsrigen anerkennen, den Rücken frei hält. Innerhalb dieser Gruppendynamik „nehmen [wir uns] als Charaktere wahr, bemüht, [unser] Eigenes zu hüten.“ (Anm. 1.) Auch das ist der easy way of life. Was aber ist das Eigene?

Die Kunst sich abzugrenzen

Samstagnacht. Ich stehe vor einem Club, der alternativer kaum sein könnte. Manche Leute laufen barfuß, die Stadt produziert und serviert ihren eigenen Mate, unzählige Budapester klappern – so ziemlich die unbequemsten Schuhe zum Tanzen – über Holzdielen ehe – und ich kann noch immer kaum fassen, dass das passiert ist – man mich wegen meines recht schicken Hemdes vorwurfsvoll beäugt, kurze Zeit später gar lautstark ins Fadenkreuz der Kritik nimmt. Als würde man mir vorwerfen, ich wolle irgendeine nicht vorhandene Kapitalpotenz zur Schau tragen und so die Liebe in der durch Zigarettenqualm und Neonlicht zu sichtbarer Materie gewordenen Luft zerstören. Und so weiter. Und so weiter. Kurzum: die oberflächliche Beurteilung meiner Person ist nicht entscheidend. Aber sie betrifft dennoch alle, weil soziale Distinktion gegenwärtig einer Unmenge an feinen Unterschieden – z.B. des Geschmacks, des subkulturellen Lebensgestus, sozialer Herkunft, politischen Überzeugungen etc. – obliegt, die wir nicht sehen, von denen wir aber wissen, dass sie da sind. Außerdem wissen wir sehr genau, wer ihnen momentan Ausdruck zu verleihen imstande ist: Flüchtlinge. Es heißt, dass sich mit jeder Krise auch Chancen auftun. Nur geht es mir nicht, wie man annehmen könnte, um die Flüchtlingskrise. Vielmehr geht es mir um die identitäre Krise einer Generation, der auch ich angehöre.

Tags zuvor war ich im Stadtpark. Der Stadtpark in Graz ist genauso, wie man sich botanisch-kultivierten Lebensraum inmitten einer Großstadt vorstellt: als Oase in einer sonst überdeterminierten und höchst nervösen Zeit, als räumlichen Gegenentwurf unseres vollkommen überladenen Geistes, als paradiesisches Überbleibsel einer durch und durch voranschreitenden Urbanisierung. Es ist ein Ort, an dem Hunde frei herumlaufen. Wenn sie sich Kindern nähern, um an ihnen zu schnüffeln, versteht es sich von selbst, dass diese die z.T. doppelt so großen Vierbeiner als unbedrohlich empfinden, ihnen die feuchte Nase tätscheln, um ihre Hand danach wieder selbst dorthin zu stecken, wo es am wärmsten scheint. Im Grunde sind sie nicht weniger an sie gewöhnt, wie die Eichhörnchen an die Menschen, denen sie hier buchstäblich aus der Hand fressen. Hunde gehören – und auch das lernen wir offensichtlich sehr früh – zur deutsch-österreichischen Identität. Der Punkt, an dem diese freimütige Offenheit einer kulturell bedingten Angst – vielleicht nicht einmal unbedingt Angst, sondern Befremdlichkeit – zum Opfer fällt, ist, wenn der augenscheinlich nahöstliche Migrant die Wege entlang streift, die hier alle von kleinen Buchen zu Alleen eingesäumt sind. Man weiß sehr genau, dass sie hier ihre Drogen verkaufen. Man kennt sie nicht persönlich, aber man ist sich jedenfalls sicher, dass sie Ausländer sind. Das sieht man dann plötzlich. David Alaba hingegen, der beste Fußballer seines Landes, könnte österreichischer nicht aussehen.

Ein Großteil der Leute, die ich bisher kennengelernt habe, sind wirklich nachsichtig mit der kulturellen Vielschichtigkeit ihrer Zeit. Sie gefällt ihnen. Auch ich bin niemals abgeneigt von interkulturellen Berührungen, was so viel heißt, dass ich in erster Linie gerne verschiedene Sachen esse. Nichts ist dem halbwegs gebildeten Studenten normativer als das humanistische Grundverständnis, das ihn vor dem universellen Status des Menschseins uniformiert. Vor dem Hintergrund seiner bloßen Existenz dürfte es ihm also schwer fallen, kulturelle Identität als Zutat eines nationalen Einheitsbreis zu akzeptieren. Auch deshalb ist man darum bemüht, Menschen anderer Herkunft auf Partys genauer zuzuhören, zustimmend zu nicken, auch dann, wenn man gar nicht weiß, was sie meinen und sie trotz ansonsten eher spärlicher Gemeinsamkeiten zumindest in den erweiterten Bekanntenkreis mit einzubeziehen oder wenigstens auf politische Korrektheit zu achten, die in den meisten Fällen relativ verdächtig anmutet. So lässt mich der Gedanke nicht los, es handele sich beim Versuch zur Integration anderer auch um einen Teil des subkulturellen Kollektivverständnisses, welches in sich zusammenbrechen würde, nähre man die vielen kleinen Leerstellen und Ungereimtheiten mit Zweifeln an den vermeintlichen Überzeugungen eines vollkommen überzeichneten und gerade deshalb fragwürdigen Sozialverständnisses.

On the surface things shine bright

Da sich das um Abgrenzung bemühte Kultur- und Kollektivverständnis solcher Gruppen nicht an nationaler Tradition oder sozialer Herkunft bemisst, ist es offenkundig, dass es sich um eine initiative Konstruktion von Identität handelt. Gerade und v.a. im urbanen Raum (sei es während eines Sit-Ins, wobei bereits der Begriff auf die bewusst angestrebte Lockerheit des Zusammentreffens verweist, die gleichsam in ideal-praktizierter Ausführung als eine Art Performance den gesamten Lebensgestus als unbekümmert, frei, zwanglos und easy zu kennzeichnen versucht) beruft man sich deshalb auf das, was eigentlich verhöhnt wird: die Akzentuierung des Oberflächlichen und den Konsum. Warum nun Flüchtlinge – so wie sie wahrgenommen und für die Kollektividentität genutzt werden – vor diesem Hintergrund keine unwichtige Rolle spielen können, will erklärt werden. Erstens sind sie – im Gegensatz zu den meisten von uns – bereit etwas über uns (an dieser Stelle fällt mir selbst auf, dass meine Gegenüberstellung von denen und uns eine unterbewusste Klassen- und auch Rassenhierarchisierung provoziert, die in diesem Text als Signum verhandelt wird, welches von gebildeteren Jugend- und Subnischen als kranke Vorprägung selbst ziemlich krankhaft zu überwinden versucht wird) und die daran anschließenden kulturellen Gepflogenheiten zu lernen. Und das v.a. aus Dankbarkeit, nicht aus Hörigkeit und Demut. Im Sitzkreis – egal wie nass oder kalt der Untergrund ist – frönen wir dann wieder uns selbst. Und zwar so zuverlässig, dass man die Uhr danach stellen kann. Wir trinken Unmengen, rauchen viel, reden derweil darüber, wie wichtig es ist, jetzt zu leben und von morgen zu träumen. Wenn es zu kalt wird, gehen wir heim und machen dort weiter. Nur nicht auf dem Boden. Wenn ein Flüchtling dabei ist, ist es schön, ihn dabei zu haben. Mehr aber auch nicht. Meistens jedenfalls.

Der Lebensgestus alternativer – zumeist mit akademischen Antlitz versehener – Jugendkulturellen in Deutschland und Österreich will v.a. eines: nicht deutsch sein, nicht österreichisch sein. Vielleicht gerade deshalb, weil das, was mitunter auch als typisch deutsch begriffen wird, die etwas undifferenzierteren Grundhaltungen und Parolen jener artikuliert, denen Flüchtlinge ein Dorn im Auge sind, denen gerade das Völkische und Private zur Konstitution einer nationalen Identität nützlich erscheint. Die Verneinung oder zumindest die Diskreditierung dieses nationalen Grundverständnisses wird in den Kreisen, denen ich zumeist angehöre beziehungsweise angehören darf, gekonnt durch die Adaptierung globalerer und grenzenloser Humanvorstellungen gedacht und praktiziert. Man versteht sich selbst als kulturell-personifizierter Hybrid. Derweil ist dies so ins Fleisch übergegangen, dass wir nicht einmal darüber nachdenken müssen, wie heuchlerisch es z.T. anmutet, dass die (zweck-)eingebundenen Flüchtlinge, die sicherlich Gründe dafür haben nach Mitteleuropa zu gelangen, gleichermaßen irritiert sein müssen, wenn ihnen ungenügsamer Überfluss als das Selbstverständlichste der Welt vorgelebt wird. Ich kenne bloß wenige, die sich aktiv um die Integration von Flüchtlingen bemühen, mich inbegriffen. Menschen, denen politische Statements oder gesellschaftliche Überzeugungen dann eher der Zurschaustellung einer weltoffenen und damit offenbar exklusiven Eigeninszenierbarkeit zuspielen, kenne ich zu genüge, mich inbegriffen. Denn Oberflächlichkeit und der damit einhergehende Vorzeigecharakter hat vor allem eines zum Vorteil: seine unmittelbare Deutlichkeit. Diese wird nicht entwickelt, sondern auf einfachste Art angeeignet, entweder – durch den entsprechenden Kaufakt – ökonomisch oder ideell. Unser Allerheiligstes also, das Selbstverständnis einzigartig zu sein, ist ein Trugbild, auferlegt bis ins letzte Detail. So viel dazu. Ich bin also raus. Der Flohmarkt wartet.

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 Anmerkungen:

  1. http://www.nzz.ch/feuilleton/aktuell/kulturelle-identitaet-als-problem-deutsch-sein-und-bleiben-ld.117226

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